Bruno Grusnick und der Lübecker Sing- und Spielkreis

Bruno Grusnick

von Klaus Dietrich Koch, Bremen

"Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen, denn ihr erster Ursprung ist von dem Himmel selbst genommen; weil die Engel insgemein selbsten Musikanten sein." Bruno Grusnicks Lebenswerk ist, neben musikalischer und gewichtiger musikwissenschaftlicher Produktion, vor allem der Lübecker Sing- und Spielkreis.

Die obenan gesetzte Strophe steht zu Bruno Grusnick und seinem Singkreis in dreifachem Bezug. Der erste und nächstliegende, nämlich die inhaltliche Aussage, bedarf unter Musikanten keiner Erläuterung. Der zweite Bezug besteht darin, daß ein Großer der deutschen Dichtkunst, zu dessen Verehrern Grusnick schon seit frühen Jahren zählt, diesen Vers "auf den Kasten der Orgel in der Kirche zu G. geschrieben" vorfand und in seiner Gedichtsammlung veröffentlichte: Eduard Mörike, der seinerseits von Religion ebenso wie von Musik zutiefst erfüllt war. Und drittens stammt die chorische Vertonung, die seit 1939 landauf landab alljährlich von vielen Chören gesungen wird und die jedem Singkreismitglied vertraut ist, von Hugo Distler.

Mit dem Namen Hugo Distler ist zugleich ein für Bruno Grusnick und den Lübecker Sing- und Spielkreis entscheidendes Stichwort genannt - allerdings nicht das Stichwort zum ersten Auftritt. Da sehen wir vielmehr zunächst im Frühjahr 1928 einen gewissen Grusnick als jungen Studienrat in Lübeck auftauchen, einen in den Norden verschlagenen Spandauer, der 1919 bis 1925 an drei Universitäten außer Germanistik, Anglistik und Sport auch den Großbereich Musik und Musikwissenschaft studiert und dabei Hermann Kretzschmar, Max Friedlaender, Johannes Wolf, Curt Sachs, Georg Schünemann und Wilibald Gurlittzu seinen Lehrern gezählt hatte. Kaum war der jungverheiratete neue Mann ein paar Wochen in Lübeck, da versammelte er auch schon eine Schar von etwa zwanzig Gleichgesinnten und Begeisterungsfähigen und begründete (am 4. Mai 1928) den "Lübecker Sing- und Spielkreis"; schon im Herbst gab es bei einem Volkstanzfest das erste öffentliche Auftreten, und vor Ostern 1930 wurde bereits in der Kirche St. Jakobi die Matthäus-Passion von Heinrich Schütz gesungen.

Hier mögen Fragen aufkommen, zum Beispiel: Wie und wodurch wird man eigentlich Chorgründer, wie und woraufhin findet man "Gleichgesinnte" und "Begeisterungsfähige"? Wieso bei einem Volkstanzfest, und warum gerade Heinrich Schütz? Zu den allgemeinen und kulturhistorischen Aspekten dieser Fragen läßt sich das Wichtigste in einigen Sätzen sagen; zu den individuellen und psychologischen Belangen insbesondere des ersten Fragenpaars werden einige Formulierungsversuche erst später folgen.

Die Tatsache, daß in den 20er und frühen 30er Jahren unseres Jahrhunderts Chöre, oft unter dem Namen "Singkreis", in vielen deutschen Städten neu entstanden, schmälert nicht im mindesten Verdienst und Wichtigkeit des konkreten Einzelfalls. Auslösender Faktor solcher Gründertätigkeit war die "Musikalische Jugendbewegung". Deren Angriffspunkte und ( sich erst allmählich klärende und mehrfach wandelnde ) Zielvorstellungen sind allgemein bekannt: Man empfand ein Ungenügen am etablierten und organisierten Musikbetrieb, an der von einer Gruppe von Fachleuten für eine Gruppe von passiven Genießern entfalteten Klangpracht, am Dominieren des über schier unbegrenzte Mittel gebietenden, klangmassigen Oratoriums und des spät- und nachromantischen Stils, dessen Epigonenschicksal es war, die für Gesang unentbehrliche Frische und Unmittelbarkeit teils durch Übersteigerung oder Überfeinerung der melodisch-harmonisch-rhythmischen Mittel, teils durch deren spielerisch-lässige oder müde ästhetisierende Handhabung einzubüßen, teils auch sich im gutgemeinten Nachempfinden vermuteter Gemütstiefe zu verlieren, bis hin zum liedertafelhaften second-hand-Kitsch; und man wollte stattdessen wieder unbefangen singen, wollte Melos, Rhythmus und Harmonie erfahren, nicht nur in der Musik übrigens; man wollte eigenes Lebensgefühl gestalten, mitteilen und mit anderen teilen. So bildeten sich laienmusikalische Bünde, Jugendchöre und Singkreise.

Die damalige Musik-Avantgarde zwölftönerischer und expressionistischer Provenienz konnte solchen Bedürfnissen nur wenig bieten. Zwar beschritt sie neue Wege, aber das waren, ebenso wie bei der musica novissima unserer 60er und 70er Jahre, nicht die einer für Laien erlebbaren und nachvollziehbaren Kunst, einer Aktivierung eigener Musizierkräfte. Ausnahmen, wie etwa der Versuch Hindemiths mit dem "Plöner Musiktag" und ähnlichen pädagogischen Musikwerken, bestätigen die Regel und hatten wenig Folgen. So entdeckte man denn zunächst das echte Volkslied wieder, nämlich das alte Volkslied, und dann die unverbrauchte Frische der mehrstimmigen Gesangsmusik des 16. und 17. Jahrhunderts - zuerst die einfachen, volkstümlichen Chor- und Tanzlieder, danach die kunstvolleren madrigalischen Formen bis hin zu den hochpolyphonen Kunstwerken des geistlichen Bereichs. Als Gipfel erwies sich das Werk von Heinrich Schütz; hier gelang eine fast einzigartige, bleibende und fruchtbare Neuentdeckung.

Was mit Musik urverwandt war, fand ebenfalls Interesse: der Volkstanz und die verschiedenen Formen des Laien-, Sing- und Tanzspiels. Der zweite Bestandteil des Namens "Lübecker Sing- und Spielkreis" verweist auf programmatische Ambitionen auch in dieser Richtung; daß sie nur sehr beschränkt, insbesondere bei Wochenendfahrten, verwirklicht wurden, war eine Frage der Zeit und Kraftökonomie (alle Mitglieder, den Leiter eingeschlossen, hatten auch noch einen Hauptberuf); und aus Sicht des Lübecker Musiklebens ist es nur zu begrüßen, daß die Aktivität Grusnicks und seines Kreises sich fast ganz der Musik zuwandte.

Bruno Grusnick hatte bereits als Jugendlicher und Student die musikalischen Bestrebungen der Jugendbewegung kennengelernt und sich weitgehend mit ihnen identifiziert, hatte sich für Heinrich Schütz und die anderen großen Alten begeistert und hatte im übrigen bemerkt, daß gar nicht so wenige Mitmenschen ähnliche Interessen hegten. Da er aufgrund gewisser Erfahrungen sich zutraute, solche Mitmenschen zu kultiviertem Singen zu bringen, sprach er etliche an - und gewann im Handumdrehen etwa 20 Leute: Schülerinnen und Schüler, Kollegen und einige andere, von denen er hörte oder merkte, daß sie der Jugendbewegung nahestanden. So wird man also Chorgründer, und so entstand 1928 der Lübecker Sing- und Spielkreis.

Mehr noch als selbst der tüchtigste Mensch vermag eine gnädige Fügung. Es kam in den ersten drei Jahren des Singkreises zu zwei schicksalhaften Begegnungen; die erste von ihnen fällt noch ins Jahr 1928. Zwischen der Kirche St. Jakobi und der Schule, an der er als Lehrer tätig war, kam Bruno Grusnick in ein langes Gespräch mit Axel Werner Kühl, dem neuen Pastor von St. Jakobi, einem hochmusikalischen und sangesfrohen, an der Jugendbewegung ebenso wie an kirchenmusikalischer, liturgischer und überhaupt kirchlicher Erneuerung brennend interessierten Lutheraner. Wichtigste Folge dieser Begegnung: 1930 wird Grusnick Kantor an St. Jakobi (und bleibt es bis 1972).

Fortan besteht zwischen dem Kirchenchor von St. Jakobi und dem Grusnickschen Singkreis bzw. später dessen Jugendchor eine partielle Personalunion, jedoch nicht etwa eine Konkurrenz im negativen Sinne. "St. Jakobi und der Sing- und Spielkreis gehören zusammen, nicht durch organisatorische Verknüpfung, sondern weil die Männer, die hier und dort wirken, sich durch den Geist der Bruderschaft verbunden wissen." (So Bruno Grusnick im Jahre 1935.)

Dies sind auch die Jahre, in denen nicht nur eine zunehmende Zahl von Dozenten an den Musikschulen und Universitäten die Ziele der Musikalischen Jugendbewegung bejaht (Grusnicks Lehrer W. Gurlitt gehörte z.B. schon früh zu ihnen), sondern auch neue Chorwerke erscheinen, die deutlich nicht mehr in erster Linie dem klassisch-romantischen Erbe verpflichtet sind, vielmehr vom Musizieren der Spätrenaissance und des Barock angeregt sind. Neben die eigentlichen musikalischen Exponenten der Jugendbewegung wie Jöde, Hensel und Gneist treten nun Hermann Grabner und Walter Rein, E. L. von Knorr und Karl Marx, J. N. David und Eberhard Wenzel, Wilhelm Maler und Ernst Pepping, H. F. Micheelsen und Helmut Bornefeld, Joseph Ahrens, Gerhard Schwarz und andere Männer mit ähnlichem Ausgangspunkt und Ethos. Derjenige aber, der unter ihnen auf dem Gebiet des a-capella-Gesangs der Größte, der Glücksfall neuer Chormusik werden wollte, kam nach Lübeck, wirkte an St. Jakobi und wurde Partner des Lübecker Sing- und Spielkreises: Hugo Distler.

Der Neuorientierung in der Chormusik entsprach ein Umdenken hinsichtlich der Orgel. Die letzten Generationen hatten vorwiegend die -zigtausend-Pfeifen-Orgel mit ihrem Superklangvolumen, ihren Schwellkörpern und Orchesterersatz-Ambitionen hochgeschätzt, bei deren Finalexzessen manch einer besorgte Blicke zum Deckengewölbe emporrichtete. Jetzt wurde man sich wieder bewußt, daß für das neue Musizier- und Klangideal und für den größeren Teil der guten Orgelmusik die vorbarocke und barocke Orgel mit ihrem gleichsam schlanken und keuschen, auf charakteristischen Registern und Mixturen beruhenden Klang weitaus besser geeignet sind. Über eines der besten Instrumente dieser Art verfügt St. Jakobi in Lübeck mit seiner "Kleinen Orgel", hergestellt im späten 15. und mittleren 17. Jahrhundert (Klein ist sie nur im Vergleich zur "Großen Orgel", die dem Klangfüll-Zeitalter entstammt.). Der spätere Thomaskantor Günther Ramin kannte und liebte dieses Instrument seit 1925, führte es auch gelegentlich seinen Schülern vor. Zum Jahresbeginn 1931 wurde die Stelle des Organisten an St. Jakobi vakant; Pastor Kühl schrieb an Ramin und bat ihn, für das freiwerdende Amt einen besonders herausragenden unter seinen Meisterschülern zu benennen. Dieser Mann, den Ramin den Lübeckern vorschlug, war Hugo Distler. Aber damals war der Kirchenvorstand von St. Jakobi keineswegs der einhelligen Meinung, daß ein so hochbegabter Künstler die Organistenstelle besetzen solle. So konnten Kühl und Grusnick die Wahl Distlers nur gegen großen Widerstand schließlich durchsetzen. Es kam zwischen St. Jakobi, Grusnicks Chören und Distler zur Begegnung, die für die beteiligten Personen zum einzigartigen Erlebnis wurde, aber auch erhebliche musikalische Folgen hatte.

Distler war 1908 geboren, kam also nach Lübeck als ein erst Zweiundzwanzigjähriger. Wer an seinen wenigen vorliegenden Werken und vor allem an seiner Orgelimprovisation bereits "die Klaue des Löwen" erkannte, fand sich hierin alsbald aufs schönste bestätigt. Über Distlers Werke im einzelnen zu sprechen, ist hier nicht der Ort. Mit seinem Vorbild Heinrich Schütz hatte er Wesentliches gemein: die geniale motivprägende Wortvertonungskraft, die elementarische rhythmische Wucht, die "einfache" Polyphonie und den unfehlbaren Sinn für die überzeugende Gestaltung kleiner und großer Strukturen. Verzehrendes Temperament und dramatischer Ausbruch finden sich neben feinster Klangsensibilität und seraphisch zarter Lyrik in einer wahren Harmonie der Gegensätze. Er sang selbst, nämlich in Grusnicks Singkreis, und seine Chorwerke blieben größtenteils "sangbar" - ein erheblicher Unterschied zu zahlreichen Werken neuer Musik vor, neben und nach Distler. Und etwas anderes Entscheidendes beschrieb Pastor Kühl in einem Brief Ende 1933 so: "Mir persönlich sind dabei immer wieder die Stellen besonders wertvoll, wo aus diesem jungen Menschen die Urkräfte des Religiösen aufbrechen."

Als er an St. Jakobi begann, waren ihm noch zwölf Lebensjahre beschieden; die erste Hälfte von ihnen verbrachte er in Lübeck. Der Verfasser dieser Zeilen konnte diese Distler-Epoche noch nicht selbst miterleben; aber als er 1946 Mitglied des Singkreises wurde (und es leider nur bis 1953 bleiben konnte), war ihre prägende Kraft, fast zehn Jahre nach Distlers Weggang und vier Jahre nach seinem Tode, im Ausgesprochenen wie im Unausgesprochenen aufs deutlichste zu spüren. Bruno Grusnick hat das Wesentliche jener Jahre in der "Zeitschrift für Musik" 1935 so formuliert: "In dem musizierenden Kreise singen und spielen die Geistlichen und der Organist mit, und die Chorgemeinschaft trägt das Schaffen des jungen Komponisten und stellt sich in die Gottesdienste hinein. Tradition und Gegenwart verschmelzen in menschlich beglückender Verbundenheit zu gemeinsamem Dienst." Zu dem Dreigestirn Kühl, Grusnick, Distler war im Jahre 1934 als Gleichgesinnter und Weggenosse der neue Jakobipastor Ernst Jansen hinzugestoßen.

Ohne daß Vollständigkeit angestrebt werden kann, sollen im Folgenden die Grundzüge und Höhepunkte der Entwicklung erwähnt sein, die Grusnick und sein Singkreis nahmen, und ihre Leitlinien oder Zentren aufgezeigt werden.

Zu dem Singkreis von 1928, der nach zwei Jahren bereits 40 Mitglieder zählte, und zu dem ab 1930 verfügbaren Kirchenchor von St. Jakobi kam im Frühjahr 1931 noch die Jugendgruppe des Sing- und Spielkreises hinzu. Sie bestand hauptsächlich aus Schülerinnen und Schülern, während im "Großen Chor" sämtliche Berufs- und Altersgruppen vertreten waren (wenn auch die Lehrergruppe wohl stets die relativ größte war). Um die rein statistischen Dinge gleich abzuschließen: beide Chöre des Singkreises zusammen hatten ab 1935 (außer in einigen Kriegsjahren) stets mindestens hundert, zu gewissen Zeiten rund 150 Mitglieder. Vor dem Kriege wurde zusätzlich ein Kinderchor gegründet und von Grete Kuck geleitet; seit der Wiederbegründung im Jahre 1951 leitete ihn Barbara Hille. Von August 1939 bis Januar 1946 war Grusnick durch Kriegsdienst und amerikanische Gefangenschaft von Lübeck abwesend; Erwin Zillinger, der mit Grusnick und dem Chor auch späterhin eng verbundene, 1974 verstorbene Kirchenmusikdirektor am Dom zu Lübeck, brachte als selbstloser Stellvertreter den Singkreis treulich durch die schweren Zeiten.

Wenn man die Gesamtheit von Grusnicks erster öffentlichen Aufführung im August 1928 bis zu seiner bislang letzten im Oktober 1972 überblickt, darf man, trotz augenfälliger Vielseitigkeit, wohl von drei entscheidenden Zentren der Arbeit sprechen. Das eine besteht, wie schon ausgeführt, im Werk Hugo Distlers. Von 1931 bis 1936 gab es eine fast ununterbrochene Kette von Uraufführungen - die Werke waren oft noch gar nicht gedruckt und die Stimmenblätter gleichsam noch feucht; ab 1937 setzte sich das fort in zahlreichen norddeutschen oder Lübecker Erstaufführungen von Distlerschen Werken der Stuttgarter und der Berliner Zeit. Vieles wurde sogleich zum "Repertoirestück". Bei den Kasseler Musiktagen 1935 und beim Grazer Musikfest 1939 hatte der Singkreis großen Erfolg und verhalf Distler zu weiterem Durchbruch. Nach dem Kriege konnte, dank vieler alten Mitglieder und dank Grusnicks überzeugender Ausstrahlung auf die vielen neuen, hieran wie selbstverständlich angeknüpft werden: Distlers Werke erklangen weiterhin in St. Jakobi, und bei jeder Fahrt des Lübecker Sing- und Spielkreises (1950 bis 1952 zweimal nach Kassel und ins Weserbergland, 1953 bis 1961 viermal nach Schweden) standen sie neben den Werken anderer neuer und denen der alten Meister auf jedem Programm.

Das zweite Zentrum von Grusnicks Singkreisarbeit ist zu umreißen mit dem Stichwort "Venezianische Mehrchörigkeit und ihre frühbarocke deutsche Nachfolge". Außer der hervorragenden "Kleinen Orgel" hatte St. Jakobi den in der Kirche Musizierenden eine weitere Besonderheit zu bieten: drei Emporen, die an drei verschiedenen Seiten des Kircheninnenraumes liegen und deren Lage zueinander akustisch und der Sicht nach nicht gar zu problematisch ist. Als Grusnick dessen 1930 bei Antritt seines Kantorats gewahr wurde, stellte er sogleich eine Verbindung her zwischen diesen Raumverhältnissen und der mehrchörigen Musikpraxis früherer Zeiten. Es war ihm klar, daß es einen wesentlichen Unterschied ausmachte, ob man bei Werken, die von ihren Komponisten als "mehrchörig" konzipiert und bezeichnet waren, die verschiedenen (vokalen und instrumentalen) Chöre einfach nebeneinander auf einer Empore aufstellte, wie bis heute vielfach üblich, oder ob man bei völlig getrennter Aufstellung von verschiedenen Stellen des Raumes aus musizieren ließ, also den "Raumklang" als gestaltenden Faktor einbezog. In den Abendmusiken von St. Jakobi erklangen fortan immer wieder die Werke der Hauptvertreter dieser Kompositionsweise: der Venezianer Andrea und Giovanni Gabrieli und ihrer deutschen Schüler und Nachfolger Hans Leo Haßler, Michael Praetorius und Heinrich Schütz.

Im dritten Tätigkeitszentrum steht das Dreigestirn Schütz, Buxtehude, Bach. Über Schütz braucht nicht mehr viel gesagt zu werden. Sein Werk, treffend als "eine Musik unmittelbar zu Gott" bezeichnet, gilt heute vielen als Höhepunkt der im eigentlichen Sinne chorisch konzipierten geistlichen Textvertonungsmusik (denn die einschlägigen Werke Bachs sind, unbeschadet ihrer musikalischen Großartigkeit, oft eher Instrumentalmusik für vox humana). Bekannte und unbekannte Motetten, liturgische Stücke und "Kleine geistliche Konzerte", mehrchörige Werke bis hin zum siebzehnstimmigen Michaelskonzert, die Matthäus-Passion, in der Grusnick oft nicht nur den Chor leitete, sondern auch die Evangelistenpartie und später die Christuspartie übernahm: All dies und mehr wurde unter Grusnicks Leitung immer wieder neu erarbeitet.

Um Dietrich Buxtehude hat sich Bruno Grusnick ein weit über das Lübecker Kulturleben hinausreichendes, bleibendes Verdienst erworben. In den frühen 30er-Jahren widmete er (seine Arbeitskraft muß schier unerschöpflich gewesen sein) Buxtehude, den Schütz-Schülern und ihren Zeitgenossen eine umfangreiche Forschungs- und Herausgebertätigkeit. Später, von den 50er Jahren an, griff er sie erneut auf; für die Erforschung der Dübenschen Sammlung von Werken jener Zeit machte ihn die Universität Uppsala 1966 zum Ehrendoktor. Während nun die Orgelwerke Buxtehudes nie zu stark in Vergessenheit geraten waren, wurde der Vokalkomponist Buxtehude eigentlich erst durch diese Herausgebertätigkeit wiederentdeckt. Einige zwanzig Kantaten allein Buxtehudes hat Grusnick, meist als Erstausgabe, inzwischen herausgegeben - größtenteils übertragen aus alten Tabulaturen der Universitätsbibliothek Uppsala. Manche von ihnen sind längst zum selbstverständlichen Besitz der Kantoreien und Singkreise geworden - und natürlich auch vom Lübecker Sing- und Spielkreis musiziert worden, ebenso wie die allen Mitgliedern wohl vertraute "Missa brevis", die schon Grusnicks Lehrer W. Gurlitt herausgegeben hatte.

Und nun der dritte Stern: Johann Sebastian Bach.

Quellennachweis: Auszug aus dem Lübeckischem Jahrbuch Der Wagen 1976, S. 109-122